Literaturkritik

Berlin-Literatur – eine kritische Betrachtung

Im Jahre 1894 hat Clauswitz in den Schriften Nr. 31 (Verein für die Geschichte Berlins) einen äußerst kritischen Bericht geschrieben. Er hat kein rühmliches Blatt an der Berlin Literatur gelassen.

Einleitung
Schon Friedrich Nicolai hat sich vor über zweihundert Jahren darüber beschwert, dass aus der Gründungszeit von Berlin-Cölln Urkunden oder Nachrichten von Schriftstellern fehlen. Er schreibt dann: „Hierdurch haben aber neuere Schriftsteller sich nicht abhalten lassen, von der Entstehung Berlins, was ihnen beliebt, zu erzählen; und durch diese öftere Wiederholung offenbarer Falschheiten und unbewiesener Sätze ist endlich die alte Geschichte Berlins so verwirrt worden, dass die historische Wahrheit ganz verdunkelt ist.“ Wenn man gehässig wäre, könnte man sagen, dass sich dieser Zustand bis in die heutige Zeit erhalten hat.

Gerechter Weise muss man aber sagen: Trotz redlicher Bemühungen haben ungünstige Umstände dazu geführt, dass sich dem Zeitgeschmack folgend, veraltete Ansichten bis heute gehalten haben. Diese Entwicklung, die schon 1894 von Clauswitz sehr kritisch bemängelt wurde, soll nun untersucht werden. Um die Blickrichtung des Betrachters deutlich zu erkennen, wird als Kriterium das Thema der Spreearme, das Gebiet des Friedrichswerder und die Dünensandkuppen in Berlin und Cölln heran gezogen.

Dabei geht es nicht um eine Glaubenssache, sondern um die Frage, wie war das Gelände zur Zeit der Besiedlung beschaffen. Wenn es heißt, es handele sich um Spreearme, so liegen sie in einem tiefen Gelände. Sagt man aber, es seien Stadtgräben, so liegt das Gelände um einige Meter höher, denn die Gräben wurden dort eingebracht und nach dem Mühlendammstau geflutet.

Der Anfang
1786: Nicolai, Beschreibung der Residenzstädte: Als Vater der Berlin-Literatur hat er uns zahllose Berichte und Informationen hinterlassen, auf die bis in die Heutzeit gern zurückgegriffen wird. Leider haben sich bei seinen Beschreibungen vereinzelte, allerdings schwerwiegende Fehler eingeschlichen. Durch gründliche Überprüfung seiner Angaben lassen sich diese Schwachstellen aber leicht aufdecken.

Das 19. Jahrhundert
Es kam zu einer sehr gründlichen Durchforstung des Archivmaterials. Klöden und Fidicin setzten sich intensiv mit Streitschriften auseinander. Alles wurde ungewöhnlich ausführlich durchdacht. Beide haben Gedanken entwickelt, die hier und da heute noch Bestand haben. Man muss diese Äußerungen nur kritisch hinterfragen und auswählen!
1834: Zedlitz, Conversations-Handbuch: Bei den historischen Bezügen zitiert er Nocolai, so daß die Angaben von Nicolai ins 19. Jh. übertragen wurden.
1839: Klöden, Über die Entstehung, das Alter und die früheste Geschichte der Städte Berlin und Kölln: Eine sehr grundsätzlich gehaltene Arbeit, deren geschichtlicher Teil mit deutscher Ausrichtung sich auf Krabbo bezieht und damit sehr real gehalten ist. Die slawische Vorgeschichte ist teilweise zu beanstanden. Bei seinen Karten von Berlin-Cölln hat er abenteuerliche Gedanken entwickelt, die wahrscheinlich dem Wissensstand oder dem Geschmack der Zeit entsprachen. Trotz der Realitätsferne werden diese Karten, noch heute benutzt oder mit dem Memhardt-Plan vermengt. Klöden hat vor dem jetzigen Dom ein Sumpfgebiet eingezeichnet, der sicherlich auf entsprechende Bemerkungen von Nicolai zurückzuführen ist. An dieser Stelle war aber eine der beiden Talsandflächen, die an anderer Stelle bei Nicolai als Sandwüste bezeichnet wird und mit viel Kuhmist zur Bepflanzung vorbereitet werden musste. Am Friedrichswerder zeichnet Klöden einen Werder, wo andere einen Teich oder Spreearme zeigen. Alles ist ein wenig wirr.
1840: Fidicin, Die Gründung Berlins: Neben seinen eigenen Erkenntnissen zitiert er vielfach Nicolai! So werden diese Informationen sogar ins 20. Jh. getragen, weil man sich häufig auf Fidicin beruft.
(Teil V): Es wird nur von Gräben und Privatgewässern gesprochen, der alte und neue Ausfluss des Spreegrabens wird erwähnt, am Friedrichswerder gibt es viele kleine Inseln und Wasserbecken. Andererseits spricht er vom Arm, der das hochliegende Cölln umfließt und vom Hauptarm der Spree. Er beschreibt sehr eindrucksvoll, was man bei der Annäherung von Cölln zu Gesicht bekommt, dass die Petri Kirche auf dem höchsten Punkt läge. Sogleich sagt er aber im Anschluss: „Alles das ist nicht mehr zusehen“. Sind diese Beschreibungen seiner Phantasie entwachsen? Kiekebusch konnte diese Erhöhung an der Petri Kirche um 1926 trotz intensiver Bemühungen nicht finden. – Die Frage nach einem Spreepass glossifizierte er mit der Frage, ob dieser wohl als so wichtig anzusehen sei, denn hierdurch könne doch wohl Nord- und Südeuropa nicht zusammengebracht werden.
1879: Lossen, Die erste Geologische Karte von Berlin: Diese Karte war eine Pioniertat. Er hatte durch den plötzlichen Tod seines Vorgängers die Aufgabe, das Material für die Planung der umfangreichen Kanalisation zur Verfügung zu stellen. Gut 300 Bohrungen standen ihm lediglich zwischen Moabit und Rixdorf zur Verfügung. Für die Spreeinsel gab es nur fünf Bohrungen! Trotzdem gelang es Lossen das Berliner Gelände im Groben richtig zu beschreiben, allerdings im Blickwinkel seine Zeit. Aber mittlerer Weile haben wir eine 10-fache Bohrzahl, so dass das Gelände viel genauer angegeben werden kann. Trotzdem wird in der Berlin-Literatur heute noch das teilweise überholte und über 100 Jahre alte Kartenmaterial von Lossen verwendet.

Beginn des 20. Jahrhunderts
Auf den Erkenntnissen des vorigen Jahrhunderts fußend wurden wesentliche Fortschritte erzielt, alles Mögliche durchdacht und mit sehr scharfen Streitschriften ausgetauscht. Daran hatte Kiekebusch und Kaeber wesentlichen Anteil. Kiekebusch und Solger erkannten, dass der westliche nacheiszeitliche Spreearm bereits verlandet war, als die Kolonisten kamen. Das besondere Aussehen des Geländes veranlasste die damaligen Bewohner dort den Cöllner Stadtgraben einzubringen. An einen östlichen Spreearm, wie man es aus der Lossensche Karte hätte entnehmen können, wollte man nicht mehr glauben.
1907: Klehmet, Beiträge zur Geschichte der märkischen Wasserstraßen, Wochenschrift des Architektenvereins zu Berlin (1908): Sein Hinweis wurde offenbar überhört, dass der Stau eines Flusses – in Berlin war es die Spree – dem Füllen der Stadtgräben mit Wasser diente und nicht vorwiegend dem Betrieb der Wassermühlen.
1916: Kiekebusch, Die Berliner Hufen: Durch allgemeine und sehr vielschichtige Forschungen in der Mark versuchte er dahinter zu kommen, wie die Menschen in früherer Zeit ihre Probleme meisterten.
1921: Clauswitz, Das Stadtbuch des alten Kölln an der Spree, Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins, Heft 52: Er prägte den Satz, dass doch „Von Natur aus wohl die Cöllner Spreeinsel nicht eine Insel gewesen sein“ kann. Damit griff er deutlich in die Diskussion ein, ob die Stadtgräben Spreearme gewesen seien.
1925: Solger, Eine geologische Wanderung durch Berlin, Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins: Als Geologe hatte er sich Gedanken über das Berlin-/Cöllner Gelände gemacht, das die ersten Kolonisten vorgefunden haben könnten. Und tatsächlich, wenn man die Geologischen Karten unvoreingenommen prüft, kann es zu dieser Zeit keinen Spreearm gegeben haben.
1926: Kiekebusch, Die Gründung Berlins: Eine sehr selbstkritische und nach allen Seiten offene Arbeit. „Wenn nicht alles trügt, stehen wir vor einem Aufschwung einer neuen Heimatgeschichte.“
1927: Kiekebusch, Die Inseln Berlin und Cölln (Brandenburgia, Bd.36, S.106): Die Siedler suchten hochwasserfeste Plätze oder siedelten am Rande einer Talsandinsel, möglichst mit Dünensand überzogen. In Berlin-Cölln hat er aber vergebens nach Dünensand gesucht. Er hatte schon erkannt, wie wichtig die genaue Kenntnis der geologischen Bedingungen sind und begrüßte die Arbeit von Lossen. Zusammen mit Solger fand er heraus, dass die Siedler in das Gelände des verlandeten Spreearms den Cöllner Stadtgraben künstlich angelegten.
1937: Nicolas, Raoul, Die ältesten Ansichten von Berlin, Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins: Bei der kritischen Betrachtung der Stadtansichten kommt auch er wie Solger zu dem Schluss, dass es zur Zeit der Besiedlung keinen Spreearm gab. Der Ausfluss des Cöllner Stadtgrabens lag im Bereich des Lustgartens.

Nachkriegszeit
In Ost und West wird altes, teilweise längst überholtes Material, wie von Nicolai und Lossen, übernommen. Durch Fehlinterpretationen entstehen falsche Bilder. Man muss aber sehr deutlich sagen, dass außer der Lossenschen Karte keine aktualisierte Geologische Karte vorlag. Allerdings hätte man auf die Erkenntnisse der Vorkriegszeit zurück greifen sollen. Da dies aber nicht geschah, entsteht der Eindruck, als seien damaligen Erkenntnisse wissenschaftlich überwunden. Gerade das ist aber nicht der Fall! Was man vor dem Kriege erarbeitet hatte, war chronologisch gewachsen und erreichte bereits einen sehr hohen Stand. Man hätte, gemischt mit neuen Forschungsergebnissen, darauf aufbauen sollen.
Natürlich war es ungünstig, dass die neue Geologische Karte von Berlin erst in den sechziger Jahren entwickelt wurde und zwar nur für den internen Gebrauch. Das dürfte der Grund sein, warum man auf Lossen zurückgriff. Ist man den kritischen Fragen nicht gründlich genug nachgegangen?

Recherche für die Nachkriegszeit
1958: Kiaulehn, Berlin, Schicksal einer Großstadt: Wundervolle Sprache, aber faktisch historisch nicht akzeptabel.
1962: Schulze, Berthold, Heimatchronik Berlin, S.69: „Inmitten dieses Spreewaldes lagen zwei Inseln. Nach Meinung der Geologen war nicht nur Cölln ursprünglich eine Insel. Sondern auch der Platz, auf dem Berlin entstand, ist nordöstlich von einem natürlichen Spreegewässer umschlossen gewesen, aus dem die Bürger den nordöstlichen Graben ihrer Stadtbefestigung gemacht haben.“ Das ist aus heutiger Sicht natürlich unakzeptabel.
1962: Gandert, Heimatchronik: Mehrere Spreearme.
1964: Kaeber, Beiträge zur Berlin Geschichte: Im Auftrage der Historischen Kommission verfasst er mehrere umfangreiche Aufsätze und beschäftigt sich auf begrenzte Probleme, wie die Siedlungsform von Berlin-Cölln, Juden im Mittelalter, die geschichtliche Entwicklung, die zum Berliner Unwillen führte. Es brechen die alten Auseinandersetzungen mit Kiekebusch hervor. Aber auch andere wie Krabbo, Clauswitz, Sello werden sorgfältig hinterfragt und die Argumente ausführlich gegeneinander abgewogen. Wasser, Gräben usw. scheint es bei ihm nicht zu geben.
1965: Solger, Enthalten in den „Betrachtungen zu den Ausgrabungen in der Nikolai Kirche Berlin“, Mitteilungen der Landesgeschichtlichen Vereinigung für die Mark Brandenburg: Nochmals macht er eindringlich darauf aufmerksam, dass Spreearme zur Zeit der Besiedlung auszuschließen sind. Nur die Spree floss in ihrer Auenlandschaft, in die die Stadtgräben eingebracht wurden.
1968: Müller, Adrian von, Berlin vor 800 Jahren: Auf Seite 13 wird die Lossensche Karte, aber mit Talsandkuppen wiedergegeben. Aus der Karte von Lossen wird abgeleitet, dass sich im Gebiet des Berliner Stadtgrabens ehemals ein Spreearm befand. Da keine neuere Geologische Karte vorlag, konnte er noch nicht wissen, daß Lossen hier wegen fehlender Bohrungen einer Fehleinschätzung unterlegen ist.
1971: Natzschka, Werner, Berlin und seine Wasserstraßen: Keine Spreearme, Spreeaue wie bei Solger.
1980: Hüns, Erik, Berlin 800 Jahre Geschichte: Es wird eine geologische Karte mit drei Spreearmen angegeben (S.11). Ferner findet sich die Lossensche Karte auf S. 26, „Berlin um 1200“ .
1987: Demps, Geschichte Berlins: Auf Seite 68 wird die Karte von Lossen wiedergegeben, wo sich anstelle der Dünensandkuppen Talsandinseln befinden.
1987: Herrmann, Joachim, Berlin, Ergebnisse der heimatkundlichen Bestandsaufnahme: Karte von Lossen (S.36 ), ferner die Umzeichnung vom Memhardt-Plan (phantasievoll, s. Dehio/Berlin)
1987: Kieling, Berlin und seine Bauten: Es wird die „überholte“ Karte von Klöden gezeigt, in die er nach Lossen die Dünensandhügel einzeichnete (S.34).
1987: Seyer, Berlin im Mittelalter: Die Lossensche Karte ist das Motto.
1990: Hofmeister, Berlin, eine geographische Strukturanalyse: Die Spree war ursprünglich in drei Arme aufgespalten, Berlin und Cölln befanden sich in einer Flussinsellage (S.4).
1999: Ribbe/Schmäcke, Kleine Berlin Geschichte: : Karte Berlin-Cölln um 1400 nach Memhardt und Lindholz (S.29), Seite 35 die gleiche Aussage für Berlin-Cölln um 1300.
2002: Ribbe/Schich, Geschichte Berlins, 3. Aufl., Bd. 1, S.149: Karte Berlin/Cölln nach Memhardt und Geol. Karte 1885, also Spreearme

Schlussbemerkungen
Die Auflistung zeigt die widersprüchliche Darstellung der Historiker. Es wäre daher begrüßenswert, wenn das bekannte Material über das Mittelalter von Berlin-Cölln nochmals unter Heranziehung neuerer Forschungsergebnisse – wie die klimagesteuerten Prozesse – durchgearbeitet und neu dargestellt werden würde. Dabei müssten die verschiedensten Wissensgebiete zusammengeführt werden.
Als Themen kämen in Betracht: Der Hauptarm der Spree blieb weitgehend erhalten, während der einstige Nebenarm verlandete. Danach erfolgte die künstliche Anlage der Gräben. Dünensand- oder Talsandhügel gab es nicht! Auch nicht die drei Spreearme am Friedrichswerder. Mit dem Begriff „sumpfig“ sollte man vorsichtig umgehen, denn im Spreetal war es nach den geologischen Daten vor mehreren tausend Jahren zwar sumpfig, danach fand aber eine Verlandung und eine Überschichtung mit Flusssand statt. Es war weitgehend trocken.